Im modernen Männertennis scheint es eine ungeschriebene Regel zu geben: Der Gipfel wird früh erklommen. Superstars wie Carlos Alcaraz oder Jannik Sinner erobern die Weltspitze, bevor sie überhaupt Mitte 20 sind. Es ist eine Welt der “Wunderkinder”, der frühreifen Talente, die mit jugendlicher Energie und Furchtlosigkeit die größten Trophäen jagen. Und dann gibt es Jan-Lennard Struff.
Wenn man über den deutschen Tennisprofi spricht, ist das Thema seines Alters nicht nur eine Randnotiz – es ist der Schlüssel zur gesamten Erzählung. Geboren am 25. April 1990, hat Struff die 30 längst überschritten, ein Alter, in dem viele seiner Kollegen über das Karriereende nachdenken oder bereits als Kommentatoren arbeiten. Doch bei Struff ist alles anders. Er spielt nicht nur mit, er erlebt mit über 30 den Höhepunkt seiner Karriere. Er erreicht Finals, schlägt Top-10-Spieler in Serie und holt seinen allerersten ATP-Titel in einem Alter, das im Tennis als “veteranisch” gilt.
Die Geschichte von Jan-Lennard Struff ist die faszinierende Geschichte eines “Spätzünders”. Sie ist ein Beweis für Beharrlichkeit, harte Arbeit und den unerschütterlichen Glauben daran, dass es nie zu spät ist, die beste Version seiner selbst zu werden. Doch wie ist das möglich? Was sind die Geheimnisse hinter dem erstaunlichen späten Erfolg des Mannes aus Warstein? Dieser Artikel taucht tief ein in die Karriere eines Sportlers, der die Zeit zurückzudrehen scheint und dabei die Regeln des modernen Tennis neu schreibt.
Wer ist Jan-Lennard Struff? Der bodenständige Mann aus Warstein

Um den heutigen Erfolg zu verstehen, muss man zu den Wurzeln zurückkehren. Jan-Lennard Struff ist kein Produkt einer glamourösen Tennis-Akademie in Florida oder an der Côte d’Azur. Er ist ein Sohn des Sauerlandes, geboren und aufgewachsen in Warstein, einer Stadt, die eher für ihr Bier als für Tennis-Champions bekannt ist.
Das Tennis wurde ihm jedoch in die Wiege gelegt. Seine Eltern, Martina und Dieter Struff, sind beide Tennistrainer. Der kleine Jan-Lennard stand schon mit sechs Jahren auf dem Platz und zeigte früh Talent. Doch anders als bei Supertalenten wie seinem späteren Davis-Cup-Kollegen Alexander Zverev verlief seine Entwicklung nicht explosionsartig. Sie war stetig, solide und von harter Arbeit geprägt. Er war ein gutes deutsches Talent, aber niemand hätte ihm damals eine Top-20-Karriere oder die Teilnahme an einem Masters-1000-Finale prophezeit. Seine Wurzeln in Warstein haben ihn geprägt: bodenständig, fleißig, ohne Allüren. Diese Eigenschaften sollten sich später als seine größte Stärke erweisen.
Die frühen Jahre: Ein langer und steiniger Weg auf der Tour
Nach einer soliden Juniorenkarriere begann für Struff der klassische, mühsame Weg eines aufstrebenden Tennisprofis. Das bedeutet: die Ochsentour. Jahrelang reiste er um die Welt, um auf der unterklassigen ITF Future Tour und später auf der ATP Challenger Tour zu spielen. Das sind Turniere in kleinen Hallen oder auf abgelegenen Anlagen, weit weg vom Glanz und Glamour der Grand Slams. Es ist eine Welt, in der es um Weltranglistenpunkte, Preisgeld für das nächste Flugticket und den unbändigen Willen geht, es eines Tages auf die große Bühne zu schaffen.
Struff kämpfte sich durch. Er war ein klassischer “Grinder”, ein Arbeiter. 2013 schaffte er erstmals den Sprung unter die Top 100 der Welt – ein riesiger Meilenstein für jeden Spieler. Er hatte sich auf der ATP Tour etabliert. Doch damit begann die nächste, vielleicht noch schwierigere Phase seiner Karriere.
Das “Struffi”-Paradoxon: Jahre als solider und gefürchteter Top-50-Spieler
Jahrelang war Jan-Lennard Struff, von Fans und Kollegen liebevoll “Struffi” genannt, eine feste Größe im erweiterten Kreis der Weltspitze. Er pendelte sich meist zwischen Platz 30 und 60 der Weltrangliste ein. Jeder wusste: An einem guten Tag ist Struff brandgefährlich. Sein Spielstil war und ist eine explosive Mischung:
- Ein gewaltiger Aufschlag: Einer der schnellsten und effektivsten auf der Tour.
- Eine brachiale Vorhand: Mit der er den Ballwechsel von der Grundlinie diktieren kann.
- Die Bereitschaft, ans Netz zu gehen: Er scheut sich nicht, Punkte mit aggressivem Serve-and-Volley-Spiel oder Netzangriffen zu beenden.
Dieses “Alles-oder-Nichts”-Tennis machte ihn zu einem Albtraum für jeden Gegner. Er konnte an einem Tag einen Top-10-Spieler vom Platz schießen, um am nächsten Tag gegen einen nominell schwächeren Gegner zu verlieren. Ihm fehlte die Konstanz, um ganz nach oben vorzustoßen. Er erreichte einige Halbfinals und Viertelfinals, aber der große Durchbruch, ein Finale oder gar ein Titel, blieb ihm verwehrt. Er war der ewige gefährliche Außenseiter, der “Giant Killer”, der aber selbst nie zum Riesen wurde. Er war ein wichtiger Pfeiler im deutschen Davis-Cup-Team, ein loyaler Teamplayer, aber im Einzel schien eine gläserne Decke über ihm zu schweben.
Die Wende: Wie ein “Spätzünder” mit über 30 das Tennis neu definiert
Um 2022/2023 herum passierte etwas. Struff war bereits über 30. Nach einer Verletzung war er sogar aus den Top 100 gefallen. Viele Experten hatten ihn abgeschrieben. Doch genau hier beginnt der “erstaunliche” Teil seiner Geschichte. Anstatt aufzugeben, startete er den beeindruckendsten Lauf seiner Karriere.
Das Wunder von Madrid 2023
Der absolute Wendepunkt war das ATP Masters 1000 Turnier in Madrid im Frühjahr 2023. Die Geschichte ist so unglaublich, dass sie wie ein Hollywood-Drehbuch klingt. Struff verlor in der letzten Runde der Qualifikation. Er war eigentlich schon ausgeschieden. Doch weil ein anderer Spieler verletzungsbedingt zurückzog, rutschte er als “Lucky Loser” doch noch ins Hauptfeld.
Was dann folgte, war Tennis-Geschichte. Befreit von allem Druck, spielte Struff wie entfesselt. Er schlug einen Top-Spieler nach dem anderen, darunter den Weltranglisten-Fünften Stefanos Tsitsipas in einem dramatischen Viertelfinale. Plötzlich stand der “Lucky Loser” aus Warstein im Finale eines der größten Turniere der Welt – gegen den damaligen Weltranglistenersten Carlos Alcaraz. Auch wenn er das Finale knapp verlor, war die Botschaft klar: Jan-Lennard Struff war nicht mehr nur ein gefährlicher Außenseiter. Er war ein ernsthafter Anwärter.
Bestätigung in Stuttgart und der erste Titel in München
Dieser Lauf war keine Eintagsfliege. Wenige Wochen später erreichte er bei den BOSS OPEN in Stuttgart erneut ein Finale auf heimischem Rasen. Die Konstanz auf höchstem Niveau war plötzlich da.
Der emotionale Höhepunkt und die endgültige Krönung seiner Beharrlichkeit folgte im April 2024. Bei den BMW Open in München, kurz vor seinem 34. Geburtstag, schaffte er es endlich. Nach einer dominanten Turnierwoche, in der er unter anderem Top-Spieler wie Félix Auger-Aliassime und Holger Rune besiegte, gewann er das Finale gegen Taylor Fritz. Es war sein erster ATP-Titel überhaupt – nach 17 Jahren als Profi und in seinem elften Finale. Die Bilder des überglücklichen Struff, der die Trophäe in den Münchner Himmel stemmte, gingen um die Welt. Der Spätzünder hatte sein Meisterstück vollbracht.
Die Gründe für den späten Erfolg: Eine Analyse
Wie ist diese Leistungsexplosion in einem so fortgeschrittenen Sportleralter zu erklären? Es ist eine Kombination aus mehreren Faktoren, die perfekt ineinandergreifen.
- Mentale Stärke und Gelassenheit des Alters Der größte Unterschied zwischen dem 25-jährigen und dem 33-jährigen Struff ist der Kopf. Jahrelange Erfahrung auf der Tour, unzählige knappe Niederlagen und auch große Siege haben ihn mental gestählt. Wo er früher in entscheidenden Momenten vielleicht verkrampfte oder zu viel wollte, strahlt er heute eine bemerkenswerte Ruhe aus. Er weiß, dass ein verlorener Punkt nicht das Ende der Welt ist. Diese Gelassenheit erlaubt ihm, sein riskantes Spiel mit mehr Überzeugung und weniger Zweifel durchzuziehen.
- Herausragende physische Fitness Um mit über 30 auf diesem Niveau mithalten zu können, muss der Körper perfekt funktionieren. Struff ist ein Musterathlet. Er hat über die Jahre verstanden, wie wichtig Regeneration, Ernährung und ein maßgeschneidertes Training sind. Unter der Anleitung seines Fitness-Teams, darunter der bekannte Athletik-Coach Uwe Veronik, hat er seinen Körper in einen Zustand versetzt, der es ihm erlaubt, auch lange Drei-Satz-Matches gegen deutlich jüngere Gegner zu bestehen. Er ist ein Beweis dafür, dass das biologische Alter durch Professionalität und Disziplin herausgefordert werden kann.
- Taktische Reife und Spielintelligenz Struff spielt heute nicht nur hart, sondern auch klug. Er hat sein Spiel weiterentwickelt. Er variiert besser zwischen aggressiven Angriffen und solidem Grundlinienspiel. Er erkennt die Schwächen seiner Gegner schneller und passt seine Taktik während eines Matches an. Sein langjähriger Trainer Carsten Arriens, ein ehemaliger Profi, hat hier maßgeblichen Anteil. Die beiden bilden ein eingespieltes Team, das Struffs rohe Kraft mit strategischer Finesse kombiniert hat.
- Die “Nichts-zu-verlieren”-Mentalität Paradoxerweise hat ihm sein fortgeschrittenes Alter auch eine gewisse Freiheit gegeben. Er muss niemandem mehr etwas beweisen. Jeder Sieg, jedes gute Turnier ist jetzt ein Bonus. Diese Freiheit entfesselt sein Spiel. Während jüngere Spieler oft unter dem Druck stehen, Erwartungen erfüllen zu müssen, kann Struff befreit aufspielen. Diese Lockerheit ist eine Waffe, die man sich nicht antrainieren kann – man muss sie sich über Jahre verdienen.
Struff im Kontext des modernen Tennis
Jan-Lennard Struffs Karriere ist ein faszinierender Gegenentwurf zum Jugendwahn im Spitzensport. Er steht in einer Reihe mit anderen bemerkenswerten “Spätzündern” wie Stan Wawrinka, der seine Grand-Slam-Titel ebenfalls erst mit Ende 20 und Anfang 30 gewann. Diese Karrieren zeigen, dass der Weg an die Spitze nicht immer eine gerade Linie ist.
Die Entwicklung im modernen Sport unterstützt solche Verläufe. Fortschritte in der Sportmedizin, bei der Ernährung und den Trainingsmethoden ermöglichen es Athleten, ihre Karrieren deutlich zu verlängern. Spieler wie Novak Djokovic oder früher Roger Federer haben bewiesen, dass man auch mit Mitte und Ende 30 absolute Weltklasse sein kann. Struff überträgt dieses Prinzip auf eine andere Ebene: Er erreicht sein persönliches Karrierehoch nicht nur, sondern er definiert es in diesem Alter neu.
Was die Zukunft bringt: Ein Ausblick ohne Grenzen
Nach seinem Titel in München erreichte Jan-Lennard Struff mit Platz 21 seine bisher höchste Platzierung in der Weltrangliste. Die Frage ist nun: Was kommt noch? Die Top 20 sind in Reichweite, vielleicht sogar mehr. Bei Grand-Slam-Turnieren ist er durch seine aggressive Spielweise auf jedem Belag ein gesetzter Spieler, dem niemand in den ersten Runden begegnen möchte.
Vor allem aber ist er zu einer Ikone der Beharrlichkeit geworden. Er ist ein Vorbild für unzählige junge Spieler, die nicht den direkten Weg an die Spitze schaffen. Seine Botschaft ist klar: Gib niemals auf, arbeite hart und glaube an deine Chance – sie kann auch dann noch kommen, wenn niemand mehr damit rechnet.
Fazit: Mehr als nur ein Alter – Ein Statement für Beharrlichkeit
Das erstaunliche Alter von Jan-Lennard Struff ist am Ende mehr als nur eine Zahl. Es ist das Fundament seiner einzigartigen Geschichte. Es erklärt seine mentale Stärke, seine taktische Klugheit und die Gelassenheit, mit der er heute sein bestes Tennis spielt. Seine Karriere ist kein Sprint, sondern ein Marathon – und er hat sich seine Kräfte perfekt eingeteilt.
Er hat bewiesen, dass es im Leben und im Sport nicht immer darum geht, der Schnellste zu sein. Manchmal geht es darum, am längsten durchzuhalten. Jan-Lennard Struff ist nicht trotz, sondern wegen seines Alters so gut wie nie zuvor. Er ist der lebende Beweis dafür, dass der beste Wein oft der ist, der am längsten reifen durfte. Und die deutsche Tenniswelt darf gespannt sein, welche grandiosen Jahrgänge “Struffi” noch zu bieten hat.