Gregor Gysis Familie: Die unglaubliche Geschichte, die er nie erzählt.

Wenn man in Deutschland den Namen Gregor Gysi hört, denken die meisten sofort an den schlagfertigen Politiker, den brillanten Redner der Linken, der mit Witz und Intellekt das politische Parkett seit Jahrzehnten prägt. Gysi ist eine öffentliche Figur, fast eine Institution. Doch hinter dem bekannten Gesicht verbirgt sich eine Familiengeschichte, die so dramatisch, komplex und widersprüchlich ist wie die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts selbst. Es ist eine Geschichte von Privilegien und Verfolgung, von kommunistischem Idealismus und tiefen menschlichen Tragödien. Es ist die unglaubliche Geschichte, die Gregor Gysi selbst nur in Bruchstücken erzählt.

Wir begeben uns auf eine Reise in die Vergangenheit, um das Mosaik der Gregor Gysi Familie zusammenzusetzen. Diese Reise führt uns von der intellektuellen Elite Berlins ins Exil nach Paris, von den höchsten Machtzirkeln der DDR bis hin zu den schmerzhaften Brüchen innerhalb der eigenen Familie. Es ist eine Geschichte, die unerlässlich ist, um den Menschen Gregor Gysi wirklich zu verstehen.

Die Säulen der Familie: Klaus und Irene Gysi – Ein Leben für den Sozialismus

Gregor Gysis Familie
Gregor Gysis Familie

Um Gregor Gysi zu verstehen, muss man bei seinen Eltern anfangen: Klaus und Irene Gysi. Sie waren nicht einfach nur Eltern; sie waren überzeugte Kommunisten, die ihr Leben einer Ideologie widmeten, die ihr Schicksal und das ihrer Kinder unwiderruflich formen sollte.

Klaus Gysi: Der Kulturfunktionär mit verborgenen Wurzeln

Klaus Gysi war eine schillernde und einflussreiche Figur in der DDR. Als langjähriger Kultusminister der DDR, später als Staatssekretär für Kirchenfragen und Botschafter, gehörte er zur obersten Nomenklatura des Staates. Er war der Inbegriff des loyalen Staatsdieners, ein Mann, der die Kulturpolitik des Landes maßgeblich mitgestaltete. Geboren 1912 in Berlin-Neukölln, wuchs er in einem bürgerlichen, intellektuellen Milieu auf. Sein Vater war Arzt, seine Mutter Buchhalterin.

Doch was in der offiziellen DDR-Biografie oft nur eine Randnotiz war, ist für das Verständnis der Familiengeschichte zentral: Klaus Gysis Vater war Jude. Diese jüdische Herkunft machte Klaus nach den Nürnberger Rassegesetzen der Nazis zum „Halbjuden“. Es war diese Abstammung, die ihn zur Flucht zwang und seinen Lebensweg radikal veränderte. Im Pariser Exil schloss er sich der Kommunistischen Partei an – eine Entscheidung, die sein Leben und das seiner Familie für immer bestimmen sollte. Er war ein Mann, der die Verfolgung durch die Nazis am eigenen Leib erfahren hatte und im Kommunismus die einzige konsequente Antwort auf den Faschismus sah.

Irene Gysi: Das Erbe der Aufklärung und der Geist des Widerstands

Gregor Gysis Mutter, Irene Gysi (geborene Lessing), stammte ebenfalls aus einer bemerkenswerten Familie. Ihr Stammbaum lässt sich entfernt auf die Familie des berühmten Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing zurückführen. Doch viel prägender war ihr direkter Familienkreis. Ihr Bruder war Gottfried Lessing, der später die britische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Doris Lessing heiratete. Die Familie Lessing war bürgerlich, weltoffen und politisch aktiv.

Auch Irene war eine überzeugte Kommunistin. Sie arbeitete im Verlagswesen und leitete später das Haus der Kultur der Sowjetunion in Ost-Berlin. Sie war eine starke, kultivierte Frau, die den intellektuellen und ideologischen Rahmen für die Familie schuf. Gemeinsam mit Klaus bildete sie ein Power-Paar der DDR-Elite, das fest im Glauben an den Aufbau einer besseren, sozialistischen Welt verankert war. Doch auch ihr Leben war von den Verwerfungen des Jahrhunderts gezeichnet.

Das verborgene Erbe: Verfolgung, Exil und eine vergessene Tragödie

Die offizielle Erzählung der Gysi Geschichte in der DDR war die des antifaschistischen Widerstandskämpfers Klaus Gysi. Doch die tiefere, schmerzhaftere Geschichte seiner jüdischen Wurzeln und die damit verbundenen Tragödien wurden im offiziell anti-zionistischen und oft antisemitisch geprägten Klima der DDR selten thematisiert.

Flucht vor dem Dritten Reich

Als die Nazis 1933 die Macht übernahmen, wurde es für Menschen wie Klaus Gysi lebensgefährlich. Er war nicht nur politisch links, sondern eben auch jüdischer Abstammung. Er floh 1936 nach Frankreich und schloss sich in Paris dem kommunistischen Widerstand an. In diesem Pariser Exil, einem Schmelztiegel für Intellektuelle und politische Flüchtlinge aus ganz Europa, traf er auch auf Irene Lessing. Ihr gemeinsamer Kampf gegen den Faschismus schweißte sie zusammen.

Doch die Geschichte hat eine noch tragischere Wendung, die oft vergessen wird. Bevor Klaus Gysi Irene heiratete, war er mit einer anderen Frau liiert: Doris Gysi (geborene Köhler, später verheiratete Heilmann). Sie war ebenfalls eine jüdische Kommunistin und Widerstandskämpferin. Die beiden waren ein Paar im Untergrund, ständig auf der Flucht vor der Gestapo. Ihre Geschichte endete auf tragischste Weise. Im Jahr 1940, während der chaotischen Flucht vor den anrückenden deutschen Truppen in Frankreich, wurde Doris von Klaus getrennt. Später erfuhr er, dass sie auf der Flucht ums Leben gekommen war – ein Schicksal, das Tausende teilten, aber für Klaus Gysi eine persönliche Katastrophe darstellte, die ihn für den Rest seines Lebens zeichnen sollte. Diese erste, tragisch verlorene Liebe ist ein wesentlicher, aber kaum bekannter Teil der Familiengeschichte.

Überleben in Deutschland

Während Klaus Gysi im Exil war, überlebte sein jüdischer Vater, der Arzt Dr. Erna Gysi, die Nazizeit auf wundersame Weise in Berlin. Er konnte bis 1938 praktizieren, weil er als “unabkömmlich” galt. Später rettete ihn die sogenannte “Mischehe” mit seiner nicht-jüdischen Frau. Dieses Überleben inmitten des Holocaust ist ein weiteres unglaubliches Kapitel der Familiengeschichte, das von Mut, Glück und den absurden Widersprüchen der NS-Bürokratie zeugt.

Diese tiefen Erfahrungen von Verfolgung, Verlust und Widerstand bildeten das Fundament, auf dem die Familie Gysi in der DDR ihr neues Leben aufbaute. Der Antifaschismus war für sie keine abstrakte Doktrin, sondern gelebte Realität.

Zwischen Überzeugung und Zweifel: Die Gysi-Geschwister

Klaus und Irene Gysi zogen ihre Kinder im festen Glauben an die DDR groß. Sie genossen die Privilegien einer hochrangigen Funktionärsfamilie: eine große Wohnung, Zugang zu Westwaren, Reisemöglichkeiten. Doch der ideologische Druck und die Realität des Systems hinterließen bei den Kindern unterschiedliche Spuren.

Gabriele Gysi: Die Rebellin und der Bruch mit dem System

Gregor Gysis ältere Schwester, Gabriele, ist vielleicht der faszinierendste Gegenpol zu seiner eigenen Biografie. Sie wurde eine gefeierte Schauspielerin an renommierten Bühnen der DDR, wie der Volksbühne Berlin. Sie war Teil der künstlerischen Bohème, die oft am Rande des politisch Erlaubten agierte. Während Gregor den Weg des Anwalts und des politischen Insiders wählte, der versuchte, das System von innen zu verändern, wuchs in Gabriele die Desillusionierung.

Sie erlebte die Zensur, die ideologische Bevormundung und die mangelnde Freiheit am eigenen Leib. Ihr Unbehagen mit dem Staat, dem ihre Eltern so treu dienten, wurde immer größer. Der Bruch kam 1984, Jahre vor dem Mauerfall. Nach einem Gastspiel im Westen entschied sich Gabriele, nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Es war ein ungeheurer Schritt, ein Affront gegen ihre Familie und den Staat. In Interviews sprach sie später offen über die Enge und den Mangel an geistiger Freiheit in der DDR. Ihr Weg zeigt, dass selbst im Herzen der Nomenklatura Zweifel und Widerstandsgeist wuchsen. Der Bruch zwischen den Geschwistern, die unterschiedliche Antworten auf dasselbe System fanden, ist ein zentrales Drama der Gregor Gysi Familie.

Gregor Gysi: Der loyale Kritiker

Gregor wählte einen anderen Weg. Er wurde Anwalt und verteidigte als solcher auch bekannte Systemkritiker wie Rudolf Bahro oder Robert Havemann. Für manche war er ein Held, der sich traute, die Mächtigen herauszufordern. Für andere war er ein Sicherheitsventil des Systems, ein Anwalt von Gnaden der SED, der half, den Deckel auf dem kochenden Topf zu halten.

Seine Position war typisch für die Komplexität seiner Herkunft: Er war Teil der Elite, aber durch seinen Beruf und seinen Intellekt auch ihr schärfster interner Kritiker. Er glaubte lange an die Idee eines “besseren Sozialismus” und versuchte, die DDR zu reformieren, nicht zu stürzen. Diese Haltung, dieses Navigieren zwischen Loyalität und Kritik, kann nur vor dem Hintergrund seiner Familiengeschichte verstanden werden. Er wollte das Erbe seiner Eltern, ihren antifaschistischen Gründungsimpuls, nicht verraten, aber er sah auch die Verfehlungen des real existierenden Sozialismus.

Das Erbe als Rüstzeug: Wie die Familiengeschichte Gregor Gysi prägte

Die unglaubliche Geschichte der Familie Gysi ist mehr als nur eine Aneinanderreihung von Fakten. Sie ist der Schlüssel zum Verständnis der politischen Persönlichkeit Gregor Gysis. Alle Fäden seiner Familiengeschichte laufen in ihm zusammen.

  • Der Überlebensinstinkt: Die Erfahrung von Verfolgung und die Notwendigkeit, sich in feindlichen Systemen zurechtzufinden, hat in der Familie Gysi einen ausgeprägten Überlebensinstinkt geschaffen. Gregor Gysis politische Karriere ist ein Meisterstück dieses Instinkts. Er überlebte das Ende der DDR, formte die PDS aus den Trümmern der SED und machte sie zu einer festen Kraft im wiedervereinigten Deutschland.
  • Die Kunst der Sprache: In einer Familie von Intellektuellen, Verlegern und Politikern, in der das richtige Wort über Freiheit oder Verfolgung entscheiden konnte, wurde Sprache zu einem mächtigen Werkzeug. Gysis legendäre Rhetorik, seine Fähigkeit, komplexe Sachverhalte dialektisch zu durchdringen und sein Gegenüber mit Wortwitz zu entwaffnen, ist ein direktes Erbe dieser Familientradition. Er lernte von seinem Vater, dem Kulturfunktionär, und seiner Mutter, der Verlegerin, wie man mit Sprache Welten erschafft – und verteidigt.
  • Der Umgang mit Widersprüchen: Gysis Leben ist voller Widersprüche. Sohn eines DDR-Ministers, der Dissidenten verteidigt. Ein Linker, der die Annehmlichkeiten des Lebens schätzt. Ein Politiker, der die DDR kritisierte, aber ihr Ende bedauerte. Diese Fähigkeit, Widersprüche nicht nur auszuhalten, sondern sie produktiv zu machen, wurzelt tief in seiner Familiengeschichte. Eine Familie, die jüdisch und kommunistisch war, die privilegiert und verfolgt wurde, musste lernen, mit diesen Spannungen zu leben.

Warum er diese Geschichte nie ganz erzählt

Gregor Gysi spricht öffentlich über seine Eltern als Antifaschisten. Er erwähnt seine Herkunft, wenn es passt. Aber die ganze Tiefe, die Tragik um Doris Gysi, die schmerzhaften Details der jüdischen Verfolgung oder den tiefen Riss, der durch die Ausreise seiner Schwester Gabriele durch die Familie ging – diese Aspekte bleiben meist im Privaten.

Vielleicht, weil die Wunden zu tief sind. Vielleicht, weil es in der schnellen Welt der Politik keinen Platz für solch komplexe, persönliche Geschichten gibt. Oder vielleicht, weil Gysi weiß, dass eine vollständige Offenlegung ihn noch angreifbarer machen würde in einer politischen Landschaft, die einfache Narrative bevorzugt. Seine Familie passt in keine Schublade, weder in die der Täter noch in die der Opfer. Sie waren beides und noch viel mehr.

Fazit: Ein deutsches Jahrhundert im Mikrokosmos

Die Geschichte der Familie Gysi ist keine einfache Heldengeschichte und auch keine reine Tätergeschichte. Es ist eine zutiefst deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie erzählt von den Hoffnungen der Weimarer Republik, der Barbarei des Nationalsozialismus, dem ideologischen Eifer und den Verfehlungen der DDR und den Herausforderungen des wiedervereinigten Deutschlands.

Sie zeigt, wie politische Überzeugungen Familien formen und spalten können. Sie zeigt, wie das Erbe von Verfolgung über Generationen weiterwirkt. Und sie zeigt, dass hinter der öffentlichen Fassade eines der bekanntesten deutschen Politiker eine menschliche Geschichte von unglaublicher Wucht und Tiefe verborgen liegt. Die unglaubliche Geschichte, die Gregor Gysi nie erzählt, ist vielleicht der wichtigste Schlüssel, um den Mann zu verstehen, den wir alle zu kennen glauben. Sie ist ein stilles Zeugnis dafür, dass die Vergangenheit niemals wirklich vergeht – sie lebt in uns weiter, in unseren Entscheidungen, unseren Kämpfen und unserem Schweigen.

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