Wir schreiben das Jahr 2025. Auf einer hell erleuchteten Bühne steht ein Mann, das Mikrofon fest in der Hand. Ein Riff erklingt, und dann setzt sie ein – diese Stimme. Eine Stimme, die so kraftvoll, so reich und so voller Seele ist, dass sie den gesamten Raum füllt und das Publikum in ihren Bann zieht. Der Mann auf der Bühne ist Sir Tom Jones. Und wenn man ihn dort so stehen sieht, mit der gleichen Energie und dem gleichen Charisma, das ihn vor 60 Jahren zum Weltstar gemacht hat, ist eine Tatsache fast unmöglich zu begreifen.
Im Juni dieses Jahres feierte dieser Mann seinen 85. Geburtstag.
Fünfundachtzig. Die Zahl allein scheint nicht zu dem Bild zu passen, das der „Tiger aus Wales“ auch heute noch abgibt. In einem Alter, in dem die meisten Menschen ihren Ruhestand geniessen, tourt Tom Jones immer noch um die Welt, nimmt von der Kritik gefeierte Alben auf und begeistert als Coach bei „The Voice UK“ ein Millionenpublikum. Wie ist das möglich? Was ist das Geheimnis hinter dieser unglaublichen Langlebigkeit? Dieser Artikel ist eine Hommage an ein Phänomen – an einen Mann, dessen Alter nur eine Zahl ist, dessen Stimme aber zeitlos bleibt und dessen Lebensgeschichte eine der bemerkenswertesten in der Musikindustrie ist.
Kapitel 1: Der „Tiger aus Wales“ – Die Anfänge einer Weltkarriere
Um das Phänomen Tom Jones zu verstehen, muss man zurück in die 1960er Jahre reisen. In eine Zeit, in der ein junger Mann aus einem walisischen Bergarbeiterstädtchen auszog, um die Welt zu erobern.

Von den Arbeiterclubs in die Londoner Charts
Geboren als Thomas John Woodward am 7. Juni 1940 in Pontypridd, Wales, wuchs er in einfachen Verhältnissen auf. Seine Stimme war sein Kapital – ein ungeschliffener Diamant mit einer rohen, bluesigen Kraft, die man bei einem jungen Mann aus Wales nicht erwartet hätte. In den rauen Arbeiterclubs seiner Heimat sammelte er erste Bühnenerfahrungen. Sein Talent war so offensichtlich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er entdeckt wurde.
1965: Der Durchbruch mit „It’s Not Unusual“
Der grosse Durchbruch kam 1965. Mit dem Song „It’s Not Unusual“ landete er einen weltweiten Hit. Der Song, mit seinem mitreissenden Rhythmus und Toms kraftvollem Gesang, katapultierte ihn über Nacht in den Pop-Olymp. Plötzlich war dieser junge Waliser mit der unglaublichen Stimme ein Star der „British Invasion“, an der Seite von Bands wie den Beatles und den Rolling Stones.
Das Sexsymbol einer Generation
Doch es war nicht nur seine Stimme. Tom Jones brachte eine animalische Energie und ein ungezügeltes Charisma auf die Bühne, das es so noch nicht gegeben hatte. Mit seinen engen Hosen, den weit aufgeknöpften Hemden und seinen lasziven Hüftschwüngen wurde er zum Sexsymbol einer ganzen Generation. Hits wie „Delilah“, „What’s New Pussycat?“, „She’s a Lady“ und „Green, Green Grass of Home“ folgten und zementierten seinen Status als globaler Superstar. Die Tradition der auf die Bühne geworfenen Damenunterwäsche begann in dieser Zeit und wurde zu einem Markenzeichen seiner Konzerte.
Kapitel 2: Die Kunst der Neuerfindung – Von Las Vegas zum Pop-Comeback
Jede grosse Karriere hat ihre Höhen und Tiefen. Was Tom Jones von vielen seiner Zeitgenossen unterscheidet, ist seine aussergewöhnliche Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden und für neue Generationen relevant zu bleiben.
Die Jahre in Las Vegas und die Suche nach Relevanz
In den 1970er Jahren wurde Tom Jones zu einem der bestbezahlten Entertainer in Las Vegas. Seine Shows waren legendär, aber gleichzeitig entfernte er sich vom Puls der aktuellen Popmusik. Während Punk und Disco die Charts eroberten, galt er für viele als Entertainer der Elterngeneration. Es schien, als würde seine Karriere langsam zu einer Nostalgie-Show verkommen.
1988: Der Geniestreich mit „Kiss“
Doch dann, im Jahr 1988, geschah etwas Unerwartetes. Zusammen mit der Avantgarde-Synth-Pop-Band Art of Noise nahm er eine Coverversion des Prince-Songs „Kiss“ auf. Das Ergebnis war ein sensationeller Hit. Das minimalistische, elektronische Arrangement und Toms ironische, aber stimmgewaltige Interpretation machten den Song zu einem Klassiker der 80er Jahre. Plötzlich war Tom Jones wieder cool. Die MTV-Generation, die ihn kaum kannte, feierte ihn. Dieses Comeback bewies seine musikalische Offenheit und seine Bereitschaft, Risiken einzugehen.
Das Album „Reload“ und die Duette mit der Jugend
Ende der 1990er Jahre gelang ihm ein weiterer Geniestreich. Auf dem Album Reload (1999) sang er Duette mit aktuellen Stars der damaligen Zeit, wie Robbie Williams, The Cardigans und den Manic Street Preachers. Der Song „Sex Bomb“ mit Mousse T. wurde zu einem weltweiten Club-Hit. Das Album verkaufte sich millionenfach und machte ihn endgültig zu einer generationsübergreifenden Ikone. Er war nicht mehr nur eine Legende der Vergangenheit; er war ein relevanter Künstler der Gegenwart. 2006 wurde er von Queen Elizabeth II. für seine Verdienste um die Musik zum Ritter geschlagen und darf sich seitdem Sir Tom Jones nennen.
Kapitel 3: Die Stimme als Coach – Wie „The Voice“ ihn unsterblich machte
Während viele Künstler seines Alters sich langsam zur Ruhe setzen, startete Tom Jones im 21. Jahrhundert noch einmal richtig durch – und zwar im Fernsehen. Seine Rolle als Coach bei der britischen Ausgabe von „The Voice“ hat ihn einer völlig neuen Generation vorgestellt und seinen Legendenstatus für die Zukunft gefestigt.
Ein Juror mit Herz und Seele
Seit dem Start von The Voice UK im Jahr 2012 ist Sir Tom Jones (mit kurzen Unterbrechungen) ein fester Bestandteil der Jury. Auf seinem roten Drehstuhl ist er mehr als nur ein Juror; er ist das Herz und die Seele der Show. Während andere Juroren kommen und gehen, ist er die Konstante, der weise Elder Statesman der Popmusik.
Warum er bei jungen Zuschauern so beliebt ist
Sein Erfolg bei einem jungen Publikum ist bemerkenswert. Er punktet nicht mit einstudierten Sprüchen, sondern mit Authentizität. Wenn er spricht, spürt man sechs Jahrzehnte Musikgeschichte. Er kennt Anekdoten über Elvis Presley, Frank Sinatra und Jerry Lee Lewis, weil er sie persönlich kannte. Gleichzeitig zeigt er eine aufrichtige Empathie für die jungen Talente. Er kritisiert konstruktiv, lobt überschwänglich und leidet sichtlich mit, wenn seine Schützlinge ausscheiden. Diese Mischung aus legendärem Wissen und menschlicher Wärme macht ihn unwiderstehlich.
Eine neue Generation entdeckt den Tiger
Durch „The Voice“ entdecken Millionen von jungen Zuschauern, wer dieser Mann mit der unglaublichen Stimme ist. Wenn er spontan einen seiner alten Hits anstimmt, sorgt das regelmässig für virale Momente im Internet. Die Show ist die perfekte Plattform, um sein musikalisches Erbe lebendig zu halten und es an die nächste Generation weiterzugeben.
Kapitel 4: Die Stimme – Das alterslose Instrument
Am Ende läuft alles auf eines hinaus: seine Stimme. Sie ist der Kern des Phänomens Tom Jones. Und das Wunderbare ist, dass dieses Instrument auch mit 85 Jahren nichts von seiner Magie verloren hat.
Ein Bariton, der die Zeit überdauert
Natürlich klingt seine Stimme heute anders als 1965. Der jugendliche Tenor ist einem tiefen, reichen Bariton gewichen. Die Stimme hat an Reife, an Tiefe und an emotionalem Gewicht gewonnen. Was sie nicht verloren hat, ist ihre Kraft. Wenn er heute singt, ist da immer noch diese unglaubliche Power, dieser unverkennbare Klang, der sofort Gänsehaut erzeugt.
Die späten Alben: Ein Kritikererfolg
Seine jüngsten Alben, die er mit dem Produzenten Ethan Johns aufgenommen hat, sind der beste Beweis für seine ungebrochene künstlerische Vitalität. Alben wie Surrounded by Time (2021) wurden von der Kritik hochgelobt. Es sind keine Nostalgie-Platten, sondern anspruchsvolle, oft düstere und sehr persönliche Werke. Er covert Songs von Bob Dylan, Cat Stevens und Leonard Cohen und gibt ihnen eine Tiefe, die nur ein Mann mit seiner Lebenserfahrung erreichen kann. Mit Surrounded by Time wurde er mit 80 Jahren zum ältesten männlichen Künstler, der jemals ein Nummer-1-Album in den britischen Charts hatte.
Die emotionale Tiefe des Alters
Wenn Tom Jones heute singt, dann singt er nicht nur die Noten. Er singt sein Leben. Jede Zeile ist durchdrungen von Freude, Schmerz, Verlust und Weisheit. Seine Auftritte haben eine emotionale Dringlichkeit, die junge Sänger nur schwer erreichen können. Er ist der ultimative Beweis dafür, dass eine Stimme mit dem Alter nicht schwächer, sondern reicher werden kann.
Kapitel 5: Das Geheimnis seiner Vitalität
Wie also macht er das? Wie schafft es ein 85-Jähriger, ein solches Pensum zu absolvieren?
Disziplin und die Liebe zur Musik
Ein Teil der Antwort liegt in der Disziplin. Er achtet auf seine Gesundheit, trainiert regelmässig (er ist ein Fan des Boxtrainings) und hat dem Alkohol abgeschworen. Aber der wahre Motor ist seine ungebrochene Leidenschaft. Er liebt es zu singen. Die Bühne ist kein Arbeitsplatz für ihn; sie ist sein Lebenselixier. Solange er singen kann, fühlt er sich lebendig.
Die Kraft, nach einem grossen Verlust weiterzumachen
Im Jahr 2016 erlitt er einen schweren Schicksalsschlag, als seine geliebte Ehefrau Linda, mit der er 59 Jahre verheiratet war, an Krebs verstarb. Ihr Tod stürzte ihn in eine tiefe Trauer, und er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder singen könnte. Doch sie hatte ihm auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, weiterzumachen. Er fand die Kraft, auf die Bühne zurückzukehren, und viele seiner heutigen Auftritte sind eine stille Hommage an die Liebe seines Lebens. Die Musik wurde für ihn zur Therapie.
Schlussfolgerung
Ja, Sir Tom Jones ist 85 Jahre alt. Aber diese Tatsache verblasst angesichts der Vitalität, die er ausstrahlt. Er ist nicht einfach nur ein Relikt aus einer vergangenen Ära, das seine alten Hits abspult. Er ist ein lebendiger, schaffender und relevanter Künstler, der sich weigert, sich vom Alter definieren zu lassen.
Seine unglaubliche Langlebigkeit ist das Ergebnis einer einzigartigen Mischung: eine Stimme, die es nur einmal pro Generation gibt, die seltene Fähigkeit zur ständigen Neuerfindung und eine authentische Liebe zur Musik, die auch nach über sechs Jahrzehnten im Rampenlicht nicht erloschen ist. Die Geschichte von Tom Jones im Jahr 2025 ist keine Geschichte des Rückblicks. Es ist die Geschichte eines Mannes, der uns zeigt, dass wahre Leidenschaft keine Altersgrenze kennt. Es ist vielleicht „nicht ungewöhnlich“, dass Stars verblassen, aber Sir Tom Jones strahlt heller als je zuvor.